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Oder: Warum psychische Erkrankungen immer als Gefahr dargestellt werden, während körperliche Krankheiten Mitleid bekommen

Schon wieder eine Meldung, in der extra betont wird: „Der Täter ist pychisch erkrankt.“ Was soll das? Ist es immer noch nicht bekannt, dass es eine ganze Bandbreite an psychischen Erkrankungen gibt und nur die wenigsten „Täter machen“? Ich habe noch nie gehört, dass ein Täter „körperlich erkrankt“ ist. Warum?

Eins wird damit klar: Ich muss schon wieder zu einer speziellen Spezies gehören, die kein Teil dieser Gesellschaft ist. So wie viele andere auch. In Zahlen sind das laut der Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie,
Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) 27,8% der deutschen Bevölkerung. Hier nachzulesen: Basisdaten Psychische Erkrankungen, Stand April 2024

Ich gehöre somit zur Spezies „Homo depressivus“. „Sapiens Sapiens“ ist ja bereits durch all die besetzt, die „normal“ sind, also keine psychische Erkrankung haben. Oder?
Zeit, diese Spezies genauer zu beschreiben. Und nicht wundern, wir haben Verwandte und einige von uns sind sogar Mischwesen, die mehr als „nur“ eine Depression haben.

1. Spezies-Profil: Homo depressivus

Lateinischer Name: Homo depressivus

Alternative Bezeichnungen:
„Der/Die unsichtbare Gefährliche“, „Der/Die Selbstmitleidige“, „Faulpelz mit Attest“

Erkennungsmerkmale:
Hat wahlweise ein unsichtbares Messer zwischen den Zähnen oder eine Spotify-Playlist voller trauriger Lieder.

Häufige Mutationen:
Dysthymia persistens (chronisch düstere Grundstimmung, auch „Dysthymie“ genannt), Anxiety primaris (ständig mit Worst-Case-Szenarien beschäftigt)

Eng verwandt: Bipolaris extremis (fährt Achterbahn ohne Sicherheitsgurt)

Gefahrenpotenzial:
Laut Medienberichten potenziell extrem gefährlich. Laut Statistik deutlich ungefährlicher als der durchschnittliche Montagmorgen im Straßenverkehr.

Häufige (Vor-)Urteile:
Homo depressivus „macht das doch nur für Aufmerksamkeit“ (Tatsächlich zieht er sich eher in seine Höhle zurück, weil er nicht als Belastung wahrgenommen werden will.)

„Die sind doch alle gefährlich!“ (Tatsächlich ist Homo depressivus deutlich häufiger Opfer als Täter.)

„Ist doch nur eine Modekrankheit!“ (Schon in der Antike beschrieben, aber klar, TikTok ist Schuld.)

Das erklärt trotzdem nicht, weshalb eine psychische Erkrankung in den Nachrichten ständig betont wird. Daher gleich auf zur nächsten Frage:

2. Warum ist „psychisch krank“ immer eine Schlagzeile?

Man stelle sich folgende Nachrichten vor:

„Mann ersticht Ehefrau – litt an chronischer Migräne“

„Rentner schlägt Nachbarn zusammen – hatte Bluthochdruck“

„Junger Mann begeht Attentat – litt an Diabetes“

Klingt absurd? Ja. Aber sobald es eine psychische Erkrankung ist, wird sie zur Ursache hochstilisiert.

Warum? Weil sich psychische Erkrankungen perfekt als Buhmann eignen. Es ist ein einfacher Schuldiger, der es den Medien ermöglicht, komplexe gesellschaftliche Probleme auf eine Schlagzeile zu reduzieren. „Psychisch krank“ klingt wie eine Erklärung, während es in Wahrheit oft nichts mit der Tat zu tun hat.

Die Realität? Menschen mit psychischen Erkrankungen sind deutlich häufiger Opfer als Täter. Laut Studien erleiden sie dreimal häufiger Gewalt als der Durchschnitt, aber das macht eben keine Schlagzeilen.
Menschen mit psychischen Erkrankungen sind sogar eher eine Gefahr für sich selbst, zumindest wenn man den Schätzungen glaubt. Das Statistische Bundesamt nennt für 2023 69.445 Personen, die eine psychische Erkrankung oder Verhaltensstörungen hatten und Suizid begangen. Schätzung, die Dunkelziffer ist höher. Hier nachzulesen: Statistik Todesfälle Depression (im Text darunter wird die Gesamtzahl mit 69.445 beziffert).

3. Die Doppelmoral: Psychische vs. Körperliche Krankheiten

Ein Selbstexperiment: Erzähle verschiedenen Menschen, dass du eine chronische Krankheit hast. Und wechsle dann die Diagnose.
(Ich habe beides, also kenne ich aus eigener Erfahrung die Reaktionen auf beide Erkrankungen.)

Variante A: Colitis ulcerosa (Autoimmuerkrankung, chronisch-entzündliche Darmerkrankung)

„Oh, weia! Wie geht’s dir damit?“
„Das muss doch echt belastend sein.“
„Hoffentlich hast du gute Ärzte!“
„Helfen dir deine Medikamente?“
„Kann das nicht Darmkrebs auslösen? Oh, wie schrecklich!“

Variante B: Dysthymie (chronische depressive Erkrankung) und Depression (wiederkehrende schwere depressive Episoden)

„Ach, das haben ja mittlerweile alle. Modekrankeit!“
„Naja, ich war auch mal traurig, das geht vorbei. Lächle einfach ein wenig.“
„Das liegt nur an deinem Mindset. Du musst halt einfach positiver denken.“
„Stell dich doch nicht so an.“
„Ah, Urlaub auf Krankenschein.“

Riesiger schwarzer Hund (Depression)
Psychische Krankheiten sind unsichtbar, also gibt es für viele Menschen keinen Grund, sie ernst zu nehmen. Es ist einfacher, sie ins Lächerliche zu ziehen oder als Faulheitsausrede abzutun.

Noch schlimmer: Während jemand mit Colitis als „tapferer Kämpfer“ gilt, wird jemand mit Depression oder Schizophrenie als „tickende Zeitbombe“ dargestellt. Daraus folgt meist:

4. Die Forderung: „Dann sperrt sie doch alle weg!“

Unter fast jeder Nachricht über einen Täter mit psychischer Erkrankung tauchen Kommentare auf wie:

„Sollen sie doch alle wegsperren, dann passiert nichts mehr!“
„Früher gab’s sowas nicht, heute hat ja jeder was.“
„Die wollen sich doch eh nur vor der Strafe drücken!“

Dieser Denkweise liegt ein gefährliches Missverständnis zugrunde.
Psychische Erkrankung =/= gefährlich.
Siehe oben…
Psychische Erkrankung =/= Schuldunfähigkeit.

Nur weil jemand Depressionen hat, bedeutet das nicht, dass er für eine Tat nicht zur Verantwortung gezogen wird. Genauso wie ein Diabetiker für einen Mord verurteilt wird, auch wenn er zum Tatzeitpunkt unterzuckert war.

Und die Forderung, alle wegzusperren?
Cool. Dann brauchen wir mehr Platz.

Etwa ein Viertel der Bevölkerung leidet irgendwann im Leben an einer psychischen Erkrankung. Das wären Millionen Menschen. Tendenz steigend!Weil psychische Erkrankungen mittlerweile öfter diagnostiziert werden bzw. überhaupt die Bereitschaft der Betroffnene gestiegen ist, darüber überhaupt zu reden. Und garantiert nicht, weil es eine „Modekrankheit“ ist. Also Hausärzte/-ärztinnen, das Personal in Kliniken und psychiatrischen Ambulanzen vergibt nicht einfach so ein „Etikett“, weil es so bequem ist, wie viele unterstellen. Meine Erfahrung sagt da etwas anderes.

Trotzdem: Wohin denn beim Wegperren mit all den Leuten? Vielleicht bauen wir einfach eine eigene Stadt dafür? Psychoville? Neurodivergentistan?

Ein weiteres Problem dieser Forderung:
Stigmatisierung führt zu weniger Hilfesuche.
Wenn jeder glaubt, dass psychisch Kranke gefährlich sind, dann wird sich niemand mehr trauen, offen zu sagen: „Mir geht’s nicht gut, ich brauche Hilfe.“ Statt Prävention gibt’s dann Verdrängung – bis es wirklich zu Problemen kommt. Suizide sind nur eine Konsequenz, oft schaffen es depressive Menschen z. B. auch gar nicht mehr, auf die Arbeit zu gehen. Folge? Arbeitslosigkeit! Eine Flucht in die Sucht ist ebenfalls eine mögliche Konseuenz.
Viele der Folgen sehen Außenstehende nicht.

5. Die Forderung mach einer Blacklist

Rechtsextreme und rechtskonservative Parteien „glänzten“ in der letzten Zeit besonders durch Forderungen nach einer Art Blacklist für psychisch erkrankte Menschen. Das verstößt nicht nur gegen jeden Datenschutz und jedes Menschenrecht, sondern lingt auch historisch verdammt nach den 1930er Jahre, die wiederum ihre Auswirkungen im Dritten reich zeigten.

Die Ironie dabei: Dieselben Parteien, die sich sonst gegen Überwachungsstaaten und Einschränkungen persönlicher Freiheiten aussprechen, haben plötzlich kein Problem damit, wenn es um psychisch Erkrankte geht. Plötzlich gilt „Sicherheit“ über allem, außer, wenn es um echte Präventionsmaßnahmen geht, die Betroffenen helfen könnten. (Meist genügt bei diesen Parteien jedoch schon der Blick ins Parteiprogramm und man merkt, dass die Freiheit nur für sie selbst gilt und auch nur so definiert wird, wie es ihnen passt. Aber das ist ein anderer Punkt.)

Warum ist diese Forderung gefährlich?

Psychische Krankheiten sind keine statische Eigenschaft. Wer kommt auf die Liste? Nur akut Erkrankte? Auch ehemals Erkrankte? Wer entscheidet, wann man „genesen“ genug ist, um nicht mehr draufzustehen?

Hinzu kommt: Wenn ich auf so einer Liste landen kann, suche ich mir überhaupt Hilfe? Wer weiß, dass eine Diagnose ihn auf eine Liste setzt, wird sich zweimal überlegen, ob er zum Arzt geht.

„Psychisch krank“ ist ein extrem weiter Begriff. Was zählt alles? Depression? Burnout? Angststörungen? Postnatale Depression? ADHS?
Wenn das kommt, dann sind plötzlich Millionen Menschen offiziell „vermerkt“.

Wenn wir anfangen, Listen für psychisch Erkrankte anzulegen, warum nicht auch für „potenziell gefährliche“ andere Gruppen? Menschen mit „schwierigen“ Meinungen? Menschen, die öfter krankgeschrieben sind? Die Logik hinter so einer Liste ist ein autoritärer Albtraum, der sich schleichend ausweiten kann.

Wenn es wirklich um Schutz und Prävention ginge, würden Politiker sich für bessere psychische Gesundheitsversorgung, schnelle Hilfe und soziale Absicherung einsetzen. Aber stattdessen wollen sie Registrierung und Kontrolle, was genau das Gegenteil von Hilfe ist.

Diese Art von Politik bringt keine Lösung, sondern mehr Angst und mehr Leid. Und das Perfide: Solange psychische Erkrankungen als „potentiell gefährlich“ ins öffentliche Bewusstsein gebrannt werden, wird sich kaum Widerstand regen, weil viele Menschen glauben, es gehe um ihre eigene Sicherheit. Sogar ehemals Erkrankte, dabei könnten sie ebenfalls auf solchen Listen landen.

6. Die wahre Gefahr sind Vorurteile

Die meisten psychisch erkrankten Menschen sind keine Gefahr für andere. Aber die Gesellschaft ist eine Gefahr für sie: durch Stigmatisierung, Vorurteile und den ewigen Mythos, dass „psychisch krank“ gleich „kriminell“ ist. Oder faul. Oder oder…

Vielleicht wäre die passendere Schlagzeile:

„Psychisch kranker Mensch begeht keine Straftat, sondern geht einfach seiner Arbeit nach und versucht, ein halbwegs normales Leben zu führen“ – aber das klickt sich halt nicht so gut. Entspricht jedoch viel mehr der Wahrheit.

Falls du oder jemand, den du kennst, mhr Informationen über das Thema Dysthymie oder Depresson benötigst, dann schaue doch mal auf dieser Webste von mir vorbei:
www.dysthergrund.de
Hier nenne ich auch Hilfenummern oder schreibe ein wenig, wie es in so einer psychiatrischen Klinik oder Reha überhaupt aussieht.